Trotz der spürbaren Routiniertheit konnte die Standesbeamtin der Trauung eine sehr schöne persönliche und individuelle Note verleihen. Für die anschließenden Familienfotos hatte das Wetter in Leipzig sein bestes Gewand angelegt, bevor die kleine Gruppe sich zum 200 Meter entfernten und festlich gedeckten Mittagstisch aufmachte.
Der Sekt wurde gereicht, der Bräutigam klopfte an sein Glas. Erhob sich. Aufgeregt sprach er seine wohl überlegten Worte. Etwas unerwartet wurde noch an ein anderes Glas geklopft. Die zweite Frau seines Vaters. In ihren wenigen Worten bedauerte sie, dass sein leiblicher und vor 5 Jahren verstorbener Vater diesen schönen Tag nicht mehr miterleben durfte. Als Andenken an diesen Tag schenkte sie ihm ein Foto und eine alte Krawatte seines Vaters.
Na ja, es gibt Krawatten, und dann gibt es Krawatten und dann,- noch sehr hässliche davon. Zuerst dachte ich, ein Glück, dass er sie erst nach der Trauung geschenkt bekam. Eventuell wäre sonst noch der Ruf aufgekommen, sie anlässlich der Zeremonie anzulegen. Unvorstellbar!
Hätte ich sie angezogen?
Ich kannte seinen Vater und mochte ihn sehr. Und heute, mit 64. Definitiv. Ich würde sie anziehen. Ich könnte nicht anders. Heute. Mit 64!
Aber ich kann meine Frage nicht beantworten, ob ich diese hässliche Krawatte auch mit 35 Junglebensjahren, im teuren Anzug neben einer wunderschönen Braut und zwischen all den Haut-de-Couture gestylten Gästen hätte tragen wollen/können?
Aus einer unbedeutenden Frage an mich selbst erkenne ich, dass ich mich selbst nicht kenne. Ich kann mich drehen und wenden wie ich will, keine Antwort will empor steigen. Es sträubt sich mit aller Kraft hervorzutreten, um mir die ersehnte Antwort und damit Gewissheit und Sicherheit zu geben, dass ich ZUMINDEST VON MIR SELBST weiß, wie ich handeln würde wenn ich handeln muss.
Die zweite Frage die sich daraus ergibt, aber nein,- es ist eigentlich schon die Antwort:
Wenn ich mich selbst schon nicht kenne, wie will ich dann andere Menschen jemals wirklich (er-)kennen?
Und wider besseren Wissens, versuch ich`s immer wieder. Und ebenso heißt es immer wieder zum Schluss:
„Überraaaaaaschung!!!“
Es wurde doch wohl nicht erwartet, dass er sie jetzt sofort anlegt? Es erscheint mir mehr wie die Übergabe eines Erinnerungsstücks… etwa wie sich noch früher die Leute Locken der Toten behielten und in Amulette steckten.
Das hat nur vermeintlich nichts mit deiner Frage zu tun, die ja – wie ich es verstehe – darauf abzielt, dass du nicht weißt, wie du gehandelt hättest, wäre die Forderung tatsächlich auf sofortiges Anlegen gerichtet gewesen. Denn dein Nicht-Wissen könnte ja auch daran liegen, dass es ein recht unwahrscheinlicher Verlauf wäre und wir für „absurde“ Situationen keine Routinen und nur wenig Erfahrungen haben.
Aber dennoch: Weißt du wirklich gar nichts über den, der du mit 30 warst?
Wenn ich mir das so vorstelle hätte ich
…mit 8 die Krawatte angezogen (und gelitten, gehasst!)
…mit 13,14,15 die Krawatte auf den Boden geworfen und zertrampelt
…mit 19 hätte ich gesagt, dass es eine ziemlich hässliche Krawatte ist – und sie nicht angezogen.
…mit 25 hätte ich begründet, warum die Krawatte eigentlich hässlich ist – und sie ihnen zu liebe angezogen
…mit 30 hätte ich sie angezogen – und spätre bei einem Toilettenbesuch wieder ausgetauscht.
Wäre mir jetzt unmöglich, Claudia, so detailliert aufzuzeigen, wie ich in den verschiedenen Altersstufen gehandelt hätte. Das gäbe meine begrenzte Fantasie nicht her. Um so schöner und bewundernswerter, dass das manchen Menschen gegeben ist.
Wenn ich mich dann so rückblickend betrachte, stehe ich wie ein Fremder neben mir. Auch wenn ich das nicht als sehr tragisch betrachte, denn es ist Schnee von gestern, macht es mich nachdenklich. Diese Gedanken werden mich noch eine Zeit lang begleiten, wie auch was du anschneidest:
Mein Verhalten in „absurden“, und ich füge mal hinzu, „extremen“, Situationen. Und gerade, weil ich dafür keine „Routinen“ und „Erfahrungen“ habe, auch da betrachte ich mich mit sehr gemischten Gefühlen. Werde ich in diesen Situationen das leisten können, was ich von mir selbst erwarte?
Also mir fallen spontan ebenfalls Vergangenheiten ein und wie ich da jeweils reagiert haben könnte bezüglich der beschriebenen Krawatte.
(Da fällt mir ein, dass ich sogar noch meine Kleinärmelkrawatte habe).
„Werde ich in diesen Situationen das leisten können, was ich von mir selbst erwarte?“ Diese Frage wird doch dadurch beantwortet, dass ich weiss, was ich von mir erwarte…
Frühabendlichherzliche Grüsse
Herr Ärmel
„Die Krawatte“. Ich könnte eine ähnliche Geschichte mit dem Titel „Die Perlenkette“ erzählen. Im Moment liegen jedoch andere Schreibarbeiten an. Später vielleicht.
Abgesehen davon, dass ich eine Frau bin, kann ich heute mit meinen fast 64 Jahren nicht beantworten, ob ich dieses Kleidungsstück mit jungen 35 getragen hätte. (Es gab übrigens eine Zeit, da waren Krawatten für Frauen in. Ich hatte auch eine um den Hals). Vielleicht hätte ich die Krawatte mit 35 ja gar nicht hässlich gefunden?. Mir fällt es schwer Fragen, die die Vergangenheit betreffen, mit meiner heutigen Sichtweise objektiv zu beantworten. Deshalb vermute ich, dass dies nichts mit Selbsterkenntnis zu tun hat.
Krawatte hin, Krawatte her. An einem Satz bin ich hängen geblieben:
„Wenn ich mich selbst schon nicht kenne, wie will ich dann andere Menschen jemals wirklich (er-)kennen?“ Gute Frage, aus der sich für mich gleich die nächste stellt. „Was will ich?“
Vielleicht liegt das unterschiedliche Vorstellungsvermögen bezüglich eigener Vergangenheit an der Zeit, die man jeweils hatte, um sich der Selbstreflektion zu widmen.
Für mich war das z.B. lebenslang ein mitlaufender Prozess, dem ich mich (jünger mehr als heute) ausgiebig widmen konnte. Drüber nachdenken, was das richtige Handeln ist, ob ich hier und da das Richtige tue, wünsche, vorschlage – und mit welchen Argumenten und Werthaltungen das zu begründen ist – dafür muss man Zeit haben!
Menschen, die in traditionellen Berufen und/oder Familienarbeit stark eingebunden sind, können sich diesen Luxus nicht so leisten. Also wird auch weniger erinnert, da das jeweilige Thema zur Zeit des Geschehens eben nicht groß „bedacht“ wurde.
Ist jetzt so meine Theorie daze….
„wie will ich dann andere Menschen jemals wirklich (er-)kennen?“
Wie wahr.
Oft genug muß man sich eingestehen, daß man zu wenig weiß, um eine Sache abschl. zu beurteilen. So belasse ich es dann mit: „Keine Ahnung“. Nicht aus Desinteresse, sondern weil ich nicht alle Parameter kenne.
Werter Herr Ärmel, liebe Christa, eure Kommentare verhelfen mir ein Thema, was mich schon seit über 10 Jahre beschäftigt, vorläufig abzuschließen. Wird jetzt vielleicht etwas länger hier, aber da müsst ihr nun durch 🙂
Ob ich in extremen Situationen, in denen ich meine, z.B. Zivilcourage zeigen zu müssen, dies dann auch kann,- oder meine Angst dabei die Oberhand behalten wird, wird in der Stunde x wohl von vielen verschiedenen Faktoren bestimmt werden.
Alles ist bisher Theorie von mir und ich werde über noch so viel hypothetische Konstellationen nicht zu der von mir gewünschten Antwort finden, mutig gegen offensichtliches Unrecht antreten zu können.
Es ist so vielen Menschen nicht gelungen und ich halte mich selbst für nicht besser, stärker, klüger,resistenter.
Etwas Trost allerdings finde ich bei dem Gedanken, dass die Menschen, denen wir als Zuschauer oftmals bewundernt „Zivilcourage“ attestieren, diese überwiegend selbst nie als Zivilcourage empfunden haben. Sie konnten aus ihren Glaubens- und Wertegrundsätzen nicht anders handeln, wie sie gehandelt haben.
D.h. für mich, alles geht im Koppe los. Und um meine Wert- und Glaubensgrundsätze zu verfestigen, dafür schreibe ich hier im blog.
Und da sind auch schon mal graue Gedanken dabei, z.b.: „ Was will ich“
Zu einer meiner großen „Was will ich“- Säulen gehört: Sicherheit,
sowohl in materieller wie auch zwischenmenschlicher Beziehungen, mit all den Nebenschauplätzen.
Sicherheit ist für mich das, was Angst „leise“ hält. Und beides, Angst und Sicherheit, gehören für mich untrennbar zusammen und zum Leben. Mal überwiegt das Eine, mal das Andere. Ab und zu gibt es auch die wunderschönen Momente, in der „Mitte“ zu sein. (Verweile doch, Augenblick)
Und genau dieser letzte Gedanke, liebe Christa, den du vielleicht erspürt hast, war auch der Auslöser zu diesem Beitrag. Meine Angst vor dem Tag, an dem alles von mir gefordert wird. Und dann: zu versagen. Ich wollte mit diesem Beitrag wieder einmal versuchen, aus der Angst heraus mir Sicherheit zu verschaffen, dass das „NICHT“ so sein wird. Es ist mir nicht gelungen. Aber es ist o.K., habe ich anderes dafür sehen dürfen.
Ich halte es für äußerst wahrscheinlich, dass das bisher geschriebene wirr klingt, doch im Rahmen eines persönlichen „Austausches“ :), lässt sich das bestimmt interessant entwirren.
Liebe Grüße aus Leipzig, auf dem Balkon des 2. Stockes hoch über den Wolken sitzend,
Menachem
Deine Theorie, liebe Claudia, klingt sehr plausibel.
Manche meiner Bekannten können aus allen Lebensstufen Bilder, Geschichten, Ereignisse hervorzaubern, das ich nur so staune. Und da frage ich mich schon öfter: Man, was ist mir die los, Menachem. Das fehlt alles in deinem Hirn. Wie heißt das Defizit, das ich da in mir trage?
Danke, liebe Claudia, Manchmal kann alles ganz einfach sein. Man muss nur darüber reden 🙂
Ein schönes Garten-Sommer-Wochenende wünsche ich dir.
Mit lieben Grüßen, Menachem
Die Parameter, Gerhard, so ist. Derer sind zu viele, (Oben habe ich es „hypothetische Konstellationen“ genannt).
Überhaupt trage ich mich jetzt auch mehr und mehr mit dem Gedanken, meine Zeit nicht mehr mit dem „was wäre wenn, und aber“ Nachlaufen zu verplembern. Kommt es, kommt es. Und es kommt ja sowieso immer anders, als man denkt.
Tja, dann wäre ich jetzt bei dem weltberühmten „Loslass“-Gedanken ankommen.Den kann man glaube ich nur entweder hassen oder lieben. Zwischendrin, ich weiß auch nicht so richtig, geht da wohl nix.
Aber nun lasse ich mal „los“ für heute, das Wochenende ruft (schon seid Montag bei mir :). Die Nichterwerbstätigen haben immer die wenigste Zeit und am meisten zu tun.
Husch…, und schon bin ich fort 🙂
Liebe Grüße, Menachem
Lieber Menachem, jetzt bin ich wohl zu spät gekommen und Du bist schon weg, schade! Aber es ist eh schon sehr viel Interessantes gesagt worden und ich hab mich hier durchgelesen, aber ehrlichgesagt weiß ich nimmer, was eigentlich Deine Frage war. Ich hab mir anfangs, beim Lesen Deines Textes nur gedacht: Warum ziehen Männer so gern Krawatten an? Ich würde das nicht aushalten, immer so ein einschnürendes Dings um den Hals, das würde meine Freiheit (und die Luft) abschneiden. Aber, gell, das war nicht die Frage? Oje, ich fürchte, ich kann Dir heute keine klugen Gedanken schenken, aber ich grüß Dich lieb und wünsch Dir ein wunderschönes Wochenende mit Musik und Tanz und guten Begegnungen und kühlem Bier! Margarete
Für das kühle Bier, liebe Margarete, ist es nie`zu spät. Soviel Zeit muss sein. Dir auch ein schönes Wochenende. Hier steht das Barometer auf „schön“. Das wird genutzt werden.
Liebe Grüße, Menachem